Dienstag, 7. November 2017

Die wiederentdeckte Einfachheit: Calisthenics, der beste Sport.

Was für eine reißerische, kurzsichtige Überschrift. Ich kann den emporsteigenden Groll der badmintonbegeisterten Rennradcrossfitcommunity schon erahnen. Haltet ein! Natürlich ist dieses einleitende Statement nur bedingt gültig. Bin ich eine downhill-slidende wingsuit-tragende Adrenalinabhängige, ist Calisthenics nicht meine erste Sportwahl. So sehr ich Relativierungen auch verabscheue; ich scheine in diesem Artikel gezwungen zu sein, explizit darauf aufmerksam zu machen, dass Calisthenics für mich der beste Sport ist. "Aber", fragt sich der treue Poetikette-Leser Hans-Peter nun sicherlich: "Warum ist das so? Und viel wichtiger: Was ist eigentlich Calisthenics?!" Die Antwort splitte ich in zwei Teile: Zum einen die körperlichen Aspekte, zum anderen die geisten Aspekte. Mehr Spiritualität als im zweiten Abschnitt wird es auf diesem Blog nie geben. Entschuldigung, Versprochen. 


Die körperlichen Aspekte


Die Fitnesslandschaft hat sich in den letzten Jahren ausdifferenziert. Früher war der Satz "Ich mache Fitness" meist ein Synonym für "Ich gehe ins Fitnessstudio". Diese Vormachtsstellung haben die mit Geräten beladenen, von stummen Bewegungen gefüllten Räumlichkeiten verloren. Ich will nicht bestreiten, dass die meisten Menschen wahrscheinlich gerade in den kälteren Jahrenzeiten dazu tendieren, ihren Sport in gewärmten Räumlichkeiten zu treiben. Trotzdem haben sich einige Alternativen zu diesen Schweißfabriken gesellt. Freelethics und Calisthenics beispielsweise. Freelethics ist in erster Linie ein ausgeklügelt-forderndes Fitnessprogramm in Form einer App. 
Calisthenics ist nach meiner Auffassung die detaillierte Neuinterpretation des guten, alten Trimm-Dich-Pfades. Mit dem Unterschied, dass diese einfachen Geräte auf einem Platz gesammelt wurden. 




Die Hanteln aus dem Fitnessstudio werden bei den Übungen vorerst durch das eigene Körpergewicht ersetzt. Unterschiedliche Bewegungsausführungen bestimmen den Schwierigkeitsgrad und die Intensität der einzelnen Übungen. Dabei macht es zu Beginn schon  einen Untschied, wie ich die Stange bei den Klimmzügen greife: Sehe ich meinen Handrücken oder meine Fingernägel beim Festhalten? 
Ist man zu Beginn mit Klimmzügen überfordert, kann man sich von sogenannten "Resistance Bands" unterstützen lassen. Diese dicken Gummiebänder kosten kaum einen Monatsbeitrag im Fitnessstudio und sind äußerst wirkungsvolle Helfer: Auf der einen Seite werden sie um die Klimmzugstange geschlungen, auf der anderen stellt sich der/die Trainierende in die unten baumelnde Schlaufe. Letztendlich ist es schlicht ein langes Gummieband, das einem etwas Körpergewicht abnimmt, wenn man nach oben gezogen wird. 
Ich möchte an dieser Stelle keinen ausgeklügelten Trainingsplan formulieren. Das Internet (insbesondere Youtube) ist voll von Trainingsanleitungen unter dem Stichwort Calisthenics oder Bodyweighttraining. Es reicht klarzustellen, dass man seinen ganzen Körper effektiv trainieren kann. Dass man möglicherweise etwas weniger Muskulatur als beim Bodybuilding aufbaut, weil man Muskeln in den Übungen nicht so exakt von einander sepatieren kann ("Ich reize jetzt nur und ausschließlich meinen Bizeps" = schwer mit Klimmzügen), sei der Vollständigkeit halber erwähnt. 
Gleichzeitig kann diese vermeintliche Schwäche jedoch auch als Stärke interpretiert werden: Meine Arme funktionieren als zusammenwirkendes System, die Muskulatur ist in ihrer Ausprägung nicht auf Ästhetik, sondern auf Funktionalität ausgelegt. Mein Trainingsgewicht ist mein Körpergewicht. Und das variiert je nach Zustand. Muskeln wiegen ja bekanntlich mehr als Fett. 
Natürlich ist Gewicht bei der Muskulaturausreizung am einfachsten im Studio durch Hantelscheiben dosierbar. Und eventuell kriege ich meinen Bizeps besser dabei ausgereizt. Was mich persönlich jedoch an Calisthenics begeistert, ist der Rahmen des Stattfindens, die befreiende Wirkung des Sports in der Kulisse des Platzes. 
Bis heute kommt es mir absurd vor, Sport in einer Halle zu treiben, den ich auch draußen vollziehen könnte. Wenn ich Sport treibe verbrennt mein Körper Kohlenhydrate oder Fett, um Energie für die Bewegungen zu gewinnen. Mir wird warum, ich schwitze. Egal bei welchen Temperaturen. 



Die geistigen Aspekte

Ich persönlich treibe Sport um den Kopf frei zu kriegen. Bei schwiergen Übungen brauche ich Konzentration. Meine Gedanken sind auf meinen Körper fokussiert. Ob man nun von Leib und Seele, von Körper und Geist oder von Materie und Bewusstsein sprechen möchte: Bei einem guten Training rückt diese Grenze so weit in den Hintergrund, wie es (mir) nur möglich ist. Motivation und geistiger Fokus spielen eine weit unterschätze Rolle im Sport. Die Fähigkeit in den eigenen Körper, in die eigenen Muskelpartien hineinfühlen zu können und das Gefühl zu haben, die physischen Grenzen psychisch weiter auszuloten ist für mich eine unersetzbare Empfindung. Hier ist dem Ausdruck durch Begriffen eine Grenze gesetzt, denn eben um die Verschmelzung dieser Entitäten geht es.
Oft habe ich gegen Ende des Workouts diesen Moment des Glücks; wie ein plötzlicher Serotoninausstoß. Der Resetbutton wurde gedrückt. Mit dem Serotonin verändert sich die Weltwahrnehmung.
Die Kulisse des Platzes ist ideal für diese Momente. Ich spüre das Wetter, ohne dass es mir ungemütlich werden würde (Verbrennung und so). Feiner, kalter Sprühregen, den man kaum sehen kann auf warmen Wangen. Die winzigen Wassertropfen formieren sich an den Sammelpunkten der Blätter zu großen Tropfen, die hörbar auf dem Weg krachen. Alles ist lauter. Vögel geben immer Geräusche von sich, nicht nur im Frühling. Wind weht durch die herbstlichen Kronen und die klammen Blätter reiben sich geräuschvoll aneinander. Beim Ausatmen nehme ich den Ansatz einer Kondenswolke wahr. Aber dafür ist es noch nicht kalt genug, es dauert sicher noch einige Wochen. Ich fühle mich im Einklang mit mir selbst. 
Ich kann nicht bestreiten, dass diese Zeilen ein gewisses Maß an Spiritualität aufweisen. Als Philosphiestudent kommt dieser Begriff fast einem Schimpfwort gleich, zumeist angepriesen als Teil von oberflächlich-fernöstlichen new-age Lifestyleydaptionen. Ich denke, dass man Spiritualität nicht kaufen kann. Man kann sie auch nicht einfach aus Kulturen oder ganzheitlichen Lebensperspektiven extrahieren. Man erfährt sie. 

Abschließend..

lässt sich sagen, dass ich grundsätzliche eher ein geselliger Typ bin. Ich lebe in einer WG und pflege generell viele soziale Kontakte. Die Einsamkeit auf dem Platz bildet für mich persönlich [insbesondere im Winter] die Ausnahme. Sie ist die Quality-Time, die ich mit mir selbst verbringe. Ich kann sie mir nur schwer umringt von einer Fitnessstudiomeute vorstellen. Aber natürlich liefere ich hier keine Blaupause für das Treiben und Erfahren von Sport, sicherlich gibt es viele unterschiedliche Varianten des Erlebens. Trotzdem kann ich Calisthenics nur empfehlen. Egal in welcher Lebenslange ich mich befand, welche Sportart ich auch immer zusätzlich  betrieben habe, Calisthenics bildete immer meine Basis.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen