Zwischen
Nationalstolz und intuitiver Ablehnung
Ein
guter Freund von mir ging kürzlich für ein Jahr nach Australien.
Seine Verabschiedung fand im Wedding statt. Sie war am Abend des
achten Julis. Während des 7:1 Spiels gegen Brasilien. Vor Anpfiff
gehen wir zusammen zum Späti an der Ecke, das letzte Bier kaufen. Im
Erdgeschoss lehnt ein älteres Ehepaar aus dem Fenster. Eine
einzelne Vuvuzela-Seela
ertönt, von der Vorfreude auf das Spiel angetrieben. „Ruhe da draußen!“ brüllte die Frau, schnippt ihr aufgerauchte Zigarette
auf die Straße und knallt das Fenster zu. Extreme prallen
aufeinander. Bendix und ich sind auch nicht wirklich Fußball-Affin, aber wir
haben einen lockereren Umgang gefunden. Auch dieser Weg war steinig.
Ein
paar Tage zuvor war ich beispielsweise bei Freundinnen in der WG,
Deutschlang gegen Algerien lief. „Seid ihr für Deutschland oder
Algerien?“, fragte ich unschuldig. Das war keine gute Idee. In
Deutschland sind die Fussballfans zur Wm meistens für Deutschland.
Ich treffe auf Unverständnis.
„Deutschland
– das sind wir alle!“ sagt der Fernseher. „Du bist Deutschland
– ob du willst oder nicht“ sagt mein Mp3-Player.
Im
Wedding haben wir mittlerweile unser Bier geöffnet, unterhalten uns.
Bendix´s Freundin versorgt uns mit Pfannkuchen. Selbst Abschiede
haben Vorteile. Plötzlich ertönt ein Ohrenbetäubender Lärm von
der Straße. Wahrscheinlich ein Tor für Deutschland. Ich lege Zimt
auf meinem Pfannkuchen nach. Minuten später beginnen die Nachbarn,
Böller auf dem Fenster zu werfen. Vor der Fußballkneipe gegenüber
wird getanzt. Noch ein Tor? Das ging schnell.
Kurz
nach dem Abebben donnert es erneut. Scheint was besonderes zu sein,
dieses Spiel. Möglicherweise sehenswert. Wir üben uns im
Sensationstourismus und stellen ein altes Netbook in die Küche. Das
Bild ist winzig und der Ard-Stream ruckelt. Irgendwann bemerken wir,
dass wir offensichtlich zwei Minuten hinterherhinken. Draußen läuft
die Apokalypse und auf dem Bildschirm passiert nichts. Es wird ein
Spiel für uns. Wir feiern erst, wenn es bei uns angekommen ist. Am
Ende steht fest: Deutschland kommt ins Finale.
Ich
drücke meinen Freund ein letztes mal und fahre nach Hause.
<Das
Finale>
Ich
wache um 17 Uhr auf. Der Abend nach unserer Einweihungsparty. Das
Konfetti wurde schon zusammengefegt. Mein Zimmer ist noch voll davon.
Mein Kopf fühlt sich auch danach an. Ich setze mich in die Küche
und trinke Wasser. Viel Wasser. Schlafen kann ich erst mal nicht.
Dann dämmert es mir. Heute ist Finale.
Freunde
gehen zum Schauen in eine Kneipe, nur ein Stück meine Straße
hinunter. „Warum nicht“, denke ich. Dreißig Minuten vor Anpfiff
komme ich an. Die meisten Plätze sind reserviert. Auf einer
Fensterbank ist noch ein Plätzchen frei. Ich kann den gesamten Raum
überblicken. Viele Trikots sind zu sehen. Es ist eine
Hipster-Kneipe. Die bröckelnden Betonwände liegen blank, alles ist
retro. Ein komisches Bild, mit diesen Fußballfans. Die Stimmung ist
gut, lachende Leute, es wird angestoßen und zugeprostet. Manuel
Neuer wird das erste Mal gezeigt, die Leute klatschen. Als die
Argentinier gezeigt werden, ertönt „Ihr sein nur ein
Rinderzuchtverein, Rinderzuchverein...“.
Mein
Kater macht mir zu schaffen. Ich unterhalte mich kaum. Zum Anpfiff
bestelle ich ein Bier. Fühlt sich komisch an, das hier. „Fußball
erschafft eine Gemeinschaft, soll verbinden. Du bist Teil davon.“
halte ich mir vor. Aber es fühlt sich nicht so an. Ich grenze mich
ab. Schade. Ich mag Fußball, treibe selbst viel Sport und sehe
Athleten gern gegeneinander antreten. Ich fiebere mit. Nur die
Leidenschaft scheint mir zu fehlen.
In
der Halbzeit laufen Nachrichten. Der Ton ist aus, stattdessen Musik,
die entfernt an Elekto-Swing erinnert. Ein Fan steht mit seinem
weißen Trikot in der Projektionsfläche des Beamers. Bilder aus dem
nahen Osten fließen über sein Oberteil und die Wand.
Bombenangriffe. Weinende Menschen. Ein hässliches Gesamtkonstrukt.
Der Swing frohlockt weiter. Ich sehe mich in dem halbvollen Raum um.
Die meisten vertreten sich draußen die Beine, ein paar sind sitzen
geblieben. Auch sie realisieren das Szenario. Die bemalten Gesichter
sind bedrückt.
Zur
zweiten Halbzeit ist die Atmosphäre ausgewechselt. Ich trinke
inzwischen mein drittes Bier. Kater-Adé. Gesellschaftsfähigkeit aus
der Flasche. Der Ball rollt. Ich bin von den Leistungen der Spieler
beeindruckt. Ein schönes Spiel. Während der Verlängerung knistert
die Spannung spürbar. Sie hat sich 113 Minuten lang aufgeladen. Als
das Tor fällt, bricht die Apokalypse los. Die Leute springen,
schreien und umarmen sich, Tische fallen um, Flaschen gehen zu
Bruch. Es hört überhaupt nicht mehr auf. Vollkommene Euphorie
durchdringt den Raum. Der Kommentator ist für den Rest des Spiels
nicht mehr zu hören, „Deutschland, Deutschland,
Weltmeister!“-Gesänge füllen den Raum. Beim Abpfiff steigert es
sich erneut.
Ich
lächle und sitze auf meiner Fensterbank. Ich bin der Einzige, der
noch sitzt. Ich freue mich für diese Leute, für die ausgelassene
Stimmung, für die Freude am Weltmeistertitel. Wirklich.
Man
muss nicht alles politisieren. Dieses Fußballspiel ist das Konzert
einer Band, für die alle Feuer und Flamme sind. Leider kommen ihre
Töne nicht zu mir durch. Der erhobene Zeigefinger und die Frage, ob
die Fans meinen, dass ihr Team besser spielt, wenn sie die Leinwand
anbrüllen, kann man sich sparen. Manchmal zählt die Stimmung. Nur
weil man etwas nicht versteht, muss man es nicht verabscheuen. Ich
freue mich trotzdem darauf, wenn die Nationalflaggen wieder abgehängt
werden. Wenn der Shit-Storm in Kommentarform wegen des „Ravensburg
statt Rio“ Artikel gegen die Taz-Redakteurin ihr Ende findet.
Schmiert euren Senf lieber auf eure Bratwürste. Feiern ist ok.
Kritik erwünscht.
„Ruhe
da draußen!“